Verstorbene Mitglieder des Lehrkörpers (Auswahl)
Norbert Baumert SJ †
Nachruf
Ein ganzes Leben für Paulus – so muss wohl ein Nachruf auf Norbert Baumert überschrieben werden. Allerdings: Wer sein Leben ganz Paulus widmet, widmet es ganz Christus. „Werdet Nachahmer von mir, wie auch ich Christi (Nachahmer bin).“ (1 Kor 10,11) Und: „Werdet wie ich, was besagt, dass auch ich wie ihr bin, Brüder. Ich bitte Euch!“ (Gal 4,12)
Wer Paulus liest, lernt Christus kennen. Norbert würde mit einer der paulinischen Sprache vergleichbaren Freude an Wortspielen und Paradoxien hinzufügen: Ja, nicht nur einen Christus, der sich von der Person des Verkündigers ablösen ließe, sondern eben wirklich: Christus über die Person des Paulus, die eins mit ihm ist, obwohl sie zugleich so anders, so eigen ist – mit ihrer gotteskriegerischen Vorgeschichte, mit der Impulsivität, Verletzlichkeit, Zärtlichkeit, Kreativität, mit dem Ringen und dem „Trauen“ (Pistis) auf Gott. Norbert las Paulus mit Liebe nicht nur zu Christus, sondern eben auch mit Liebe zu Paulus. Wir, die wir in den 80er-Jahren in Frankfurt/St. Georgen in seinem Seminar saßen, Norberts Übersetzungsvorschläge hin- und her bewegten (manchmal bis tief in die Nacht), andere Kommentare wälzten, Wortfeldvergleiche anstellten, Rezeptionsgeschichten rekonstruierten, lexikalische Grundlagen kritisch überprüften – wir lernten an Norberts Liebe zu Paulus seine und Paulus´ Liebe zu Christus kennen. So etwas steckt an.
Norbert war ein Außenseiter in seiner Zunft. Ein Mitbruder fragte ihn einmal, wie er damit umginge, dass er so wenig rezipiert werde. Seine Antwort lautete: Er tue das, was seine Berufung ist – alles Weitere überlasse er Gott. So klingt gelebtes „Trauen“ (pistis). Norbert war von seiner akademischen Herkunft her ohnehin kein Exeget, sondern promovierter klassischer Philologe. 1972 legte er an der Freien Universität Berlin seine Promotionsarbeit vor („Täglich Sterben und Auferstehen. Der Literalsinn von 2 Kor 4,12-5,10“), bei Prof. Keydell, einem Spezialisten für koine-griechisch. In vielen Gesprächen mit ihm waren die Projekte entstanden, denen er dann zeitlebens sein Arbeiten widmete: Zunächst die Dekonstruktion mehr oder weniger aller Selbstverständlichkeiten und auch Klischees in der Paulus-Exegese und in allen möglichen Paulus-Diskursen: Naherwartung, Frauenfeindlichkeit, Leibfeindlichkeit, Gegner des Paulus (z.B. angebliche gnostische Strömungen in 1 Kor), Antinomismus und Antijudaismus, Deutero-Paulinen (dagegen Norbert: Epheser- und Kolosser-Brief sind frühe Original-Paulinen, die sich an Judenchristen wenden), Charismen-Lehre, und so weiter. Norbert stellte sich mit seinen alternativen Entwürfen quer zu mehr oder weniger allen Übersetzungsstandards, Klischees und traditionell verfestigten Missverständnissen, und zwar dermaßen quer, dass es ihn tatsächlich in der Exegeten-Zunft einsam machte. Er wusste das und nahm es seinen Kolleginnen und Kollegen nicht übel.
Paulus war für Norbert kein systematischer Theologe (in Ansätzen vielleicht höchstens im Römerbrief), sondern einer, bei dem sich Sprache und Terminologie noch ganz im Entstehungs- und Versuchsstadium befinden. Daher lag sein Akzent auf der Philologie. Paulus wollte und musste eine ihm neue und ganz durchdringende Erfahrung zum Ausdruck bringen – dieser Mühe um Sprache galt es für Norbert nachzugehen. Gerne zitierte er den großen Altphilologen Willamowitz-Moellendorf. Der bescheinigte der Sprache von Paulus eine „erquickende Formlosigkeit, die doch den Gedanken und Empfindungen ganz adäquat ist.“
Zu den hermeneutischen Voraussetzungen von Norberts Paulusexegese gehört eine Grundsympathie für die Person des Paulus. Die war wohl für den gebürtigen Schlesier eine Selbstverständlichkeit. Er wurde am 24.7.1932 als drittes von dreizehn Kindern (9 Brüder, drei Schwestern) einer Bäckerfamilie in Penzig bei Görlitz geboren. Die Verhältnisse waren normal schlesisch-katholisch. Also galt: Wessen Briefe in der kanonischen Heiligen Schrift der Kirche aufgenommen sind, der verdient Grundvertrauen auch in seine Person, nicht nur in die Inhalte seiner Verkündigung. Rückblickend ist zu vermerken, dass Norbert durch die Beschäftigung mit Paulus auch aus katholischen Engen herausgeführt wurde. Bei Paulus fand er die Freiheit, sich auf Reformperspektiven einzustellen, die heute den innerkatholischen Diskurs bewegen. Dabei waren ihm auch immer seelsorgerische Aspekte wichtig – man denke zum Beispiel nur an Ängste vor dem „unwürdigen Kommunionempfang“, die sich auf 1 Kor 11,29 beziehen. Aus solchen Engen führte Norbert heraus, zusammen mit Paulus. Seine Exegese ist deswegen keineswegs philologisches Glasperlenspiel, sondern Inspiration für Seelsorge.
1950 verließ Familie Baumert die Heimat, mit neunzehn Jahren trat der junge Norbert in das Noviziat der damaligen deutschen Ostprovinz auf dem Jakobsberg ein. Neun Jahre später, am 27.8.1961, wurde er in St. Matthias/Berlin von Weihbischof Julius Döpfner zum Priester geweiht, anschließend war er als Kaplan in der Pfarrei St. Canisius in Berlin sowie in der Aktion 365 tätig, unterrichtete Religion am Canisius-Kolleg und an der Liebfrauenschule. 1975-77 übernahm er übergangsweise das Amt des Vizerektors am Canisius-Kolleg. Als ich im Jahre 2013 mit ihm über die damaligen Missbräuche im Canisius-Kolleg sprach, zeigte er volles Verständnis für die Aufarbeitungsbemühungen seit 2010. Dass es so etwas wie „Stunden der Wahrheit“ gibt, war ihm von seiner Paulus-Lektüre her vertraut. Dass allerdings Schule und Leitung eines Kollegs nicht sein Charisma waren, hatte er schon früh in den 70er Jahren klar erkannt und deswegen die Übernahme des Rektorenamtes abgelehnt, damals ein prestigeträchtiges Amt.
Wichtig war in diesen Jahren für Norbert auch das Engagement in der charismatischen Erneuerung. Er blieb ihr bis zum Schluss seines Lebens in unterschiedlichen Funktionen treu. Erfahrungen in der charismatischen Erneuerung dienten ihm auch als weiterer hermeneutischer Schlüssel für die Paulus-Exegese. Uns Studentinnen und Studenten in St. Georgen, jedenfalls den meisten, waren charismatische Gebetsweise und Gottesdienstgestaltung eher fremd (jede Sitzung begann mit einem in persönlichen Worten gehaltenen Gebet). Ich gehörte zu denjenigen, die charismatisch geprägte Frömmigkeit – so muss ich heute schamvoll eingestehen – eher belächelte. Doch leuchtete sie uns zugleich als Erfahrungshintergrund für ein besseres Paulus-Verständnis ein. Unzweifelhaft wird ja in den Paulusbriefen eine Praxis von Gottesdiensten sichtbar (Zungenreden, Heilungen, prophetischen Situationsdeutungen), die den Liturgien pfingstlicher Gruppen mehr ähneln als den eher kopflastigen oder auch korrekt-hochkirchlichen Formen im studentischen Milieu der 80er Jahre. Allerdings: Wer sich einmal dem Gedanken öffnet, dass der Geist auch heute im Gottesdienst so wirken kann wie in den paulinischen Gemeinden, für den verändert sich dann auch mehr als nur der Blick auf die Paulus-Briefe.
Nach Vollendung seiner Habilitation über 1 Kor 7 wurde Norbert Baumert 1982 zum Dozenten und 1985 zum ordentlichen Professor an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt ernannt. In den Leitungsgremien der charismatischen Erneuerung blieb er aktiv, gründete einen Kreis von Schülerinnen und Schülern (Frankfurter „Paulus-Kreis“) und publizierte eine Studie nach der anderen. Im Jahre 2000 wurde er emeritiert, doch ließ seine Produktivkraft nicht nach – alles keine leichte Kost, sondern eher detaillierte, manchmal bis ins Skrupulöse hineingehende sprachliche Kärrnerarbeit zu Einzelfragen. Von außen konnte man gelegentlich den Eindruck gewinnen, er bemühe sich, so lange am Wortsinn zu arbeiten, bis das herauskommt, was seiner ursprünglichen Intuition entspricht; aber andererseits, so konterte er mit Recht, könne man ja nicht sagen, dass seine philologischen Erkenntnisse deswegen nicht stimmen, weil sie seine ursprünglichen Intuitionen bestätigten. Und wenn eine sperrige Formulierung bei Paulus plötzlich durch Norberts Neuübersetzung „glatter“ oder „zu glatt“ wurde und ihm gerade dies vorgeworfen wurde, so konterte er, dass eine Übersetzung doch nicht deswegen falsch sein könne, weil sie verständlicher sei.
Als Norbert im Jahre 2006 nach Wien wechselte, waren die Arbeiten an seiner Reihe „Paulus neu gelesen“ bereits voll im Gange. Er wurde unterstützt von seiner Mitarbeiterin Maria-Irma Seewann, die in den letzten Ausgaben der Reihe auch als Mit-Autorin fungierte. Mit dieser Reihe sollte seine neue Übersetzung auch einem größeren Kreis nahegebracht werden. Sie ist die Zusammenfassung und Vollendung seines Lebenswerkes. Wegen wachsender Beschwerden infolge einer fortschreitenden Parkinson-Erkrankung zog Norbert 2018 in ein Pflegeheim um, arbeitete weiter an und betete weiter mit Paulus. Maria-Irma Seewann blieb bis zum Schluss an seiner Seite. Am 16. September schlief er in Frieden im Herrn ein. Der Schatz, den er hinterlässt, ist noch lange nicht gehoben.
P. Klaus Mertes SJ
Mehr über Norbert Baumert SJ † erfahren?
Im Volltext zugängliche Publikationen
- Ist die unschuldige Geschiedene nicht frei?
erschienen in: Pastoralblatt der Diözesen Aachen etc., Köln: Ritterbach Verlag März/2015
- Die Briefe an Philemon, an die Kolosser und an die Ephesser
erschienen als Beiheft zum Buch: Israels Berufung für die Völker
- Der Brief an die Galater und der Brief an die Philipper
erschienen als Beiheft zum Buch: Der Weg des Trauens
- Der zweite Korintherbrief
erschienen als Beiheft zum Buch: Mit dem Rücken zur Wand
- Der erste Korintherbrief
erschienen als Beiheft zum Buch: Sorgen des Seelsorgers
- Der erste und der zweite Brief an die Thessalonicher
erschienen als Beiheft zum Buch: In der Gegenwart des Herrn
- Ein Freundesbrief an einen Sklavenhalter? Der Brief des Paulus an Philemon
erschienen in: Baumert, N., Studien zu den Paulusbriefen. (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände [SBAB], Bd. 32), Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2001, 131-160.
- Paulus zur Beziehung der Geschlechter
erschienen in: Theologie und Philosophie 66 (1991) 21-48