75 Jahre Sankt Georgen
(Vortrag aus Anlaß der Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahre 2001)
Wie kam es 1926 zur Gründung von Sankt Georgen? Hier kommen drei Pläne zusammen, für die drei Personen stehen. Einmal von seiten des Jesuitenordens der Wille, endlich aus dem Exil heraus auch theologisch nach Deutschland herein zu kommen und voll in der deutschen akademischen Landschaft präsent zu sein. Für diesen Willen steht vor allem der letzte Rektor der jesuitischen Ausbildungsstätte in Valkenburg / Holland, Ludwig Kösters, gleichzeitig Provinzial in den Jahren 1915-21, als die entscheidenden Pläne für Sankt Georgen geschmiedet wurden, und dann auch erster Rektor von Sankt Georgen. Hier muß man bedenken: Der Jesuitenorden war von 1872 bis 1917 in Deutschland verboten und konnte keine offiziellen Anstalten in Deutschland haben. Die Ausbildungsstätten des Ordens waren vor allem in Holland, zeitweise auch in Ditton Hall bei Liverpool / England. In Holland wohnte man zunächst auf Schlössern des katholischen westfälischen Adels, der seine in Holland besessenen und nicht benutzten Schlösser dem Jesuitenorden freundlichst zu Verfügung gestellt hatte, dann auch auf eigenem Grund und Boden: Das war die jesuitische Anstalt in Valkenburg. Valkenburg war von 1894 an bis 1924/26 die philosophische und theologische Ausbildungsstätte des Ordens, das Collegium Maximum der Provinz, mehr als es eigentlich Sankt Georgen je gewesen ist. Es gab ja nur eine einzige deutsche Jesuitenprovinz bis zum Jahre 1921. Erst dann kam die Teilung in eine Niederdeutsche und eine Oberdeutsche Provinz. Der letzte Rektor von Valkenburg, Ludwig Kösters, hegte bereits 1913/14 den Plan, das nahe an der deutschen Grenze gelegene Valkenburg für andere nicht-jesuitische Studenten (vor allem anderer Orden) zu öffnen. Nach 1917 war P. Kösters als Provinzial darauf aus, nach Deutschland zu kommen, u.a. auch mit der Begründung: Unsere Scholastiker versauern, wenn sie nur sozusagen auf der Heide, auf dem Land, ausgebildet werden und nicht den Kontakt mit der Großstadt haben. Er trieb das Projekt voran, aber das Problem war für den Jesuitenorden: Wie konnte er eine Anstalt bekommen, die voll staatlich anerkannt war und als gleichwertig zu den Universitätsfakultäten galt?
Dazu bot sich nun der Kontakt mit einer anderen Institution an, die die staatliche Anerkennung im Prinzip hatte, jedenfalls jederzeit bekommen konnte, aber nicht genügend Geld und vor allem nicht das nötige Personal hatte. Und das war die Diözese Limburg. Hier muß man bedenken: Seit der Gründung des Bistums Limburg 1827, als Landesbistum damals des Herzogtums Nassau und der Freien Stadt Frankfurt, war es der Wunsch der Bischöfe, eine eigene theologische Ausbildungsstätte zu haben. Das gelang nie. In der letzten Phase vom Ende des Kulturkampfes, also von 1887 an bis zur Gründung von Sankt Georgen, studierten die Limburger Theologiestudenten im Fuldaer Seminar. Schon von daher versteht man, daß die Diözese Fulda nicht entzückt war über die Gründung von Sankt Georgen. Aber der Bischof von Limburg hatte, ebenso wie der Bischof von Osnabrück, im Zuge der vorläufigen Schlußbereinigung des Kulturkampfes im Jahre 1887 durch staatliches Gesetz das Recht bekommen, eine theologische Anstalt zu gründen, welche die staatliche Anerkennung erhalten würde. Mit anderen Worten: Der Bischof von Limburg hatte im Prinzip die staatliche Anerkennung in der Tasche, die der Jesuitenorden nicht hatte.
Aber es kam nun noch eine andere Persönlichkeit hinzu. Das war der damalige Generalvikar Matthias Höhler. Er war Germaniker, und sein Ideal, das er auf Frankfurt zu übertragen gedachte, war das Innsbrucker Modell, d.h. eine komplette Theologische Fakultät, die dem Jesuitenorden übertragen würde, innerhalb einer Universität. Und nun entstand seit der Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg die Frankfurter Universität. Höhler dachte: Da müssen wir unbedingt präsent sein; denn Frankfurt wird als Universität ein geistiges Zentrum der Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften ersten Ranges sein. Da kommt es darauf an, daß die Kirche durch die Theologische Fakultät präsent ist. Und er dachte und hoffte, er könnte diese Theologische Fakultät dem Jesuitenorden übergeben; zumal nach dem Fall des Jesuitengesetzes 1917 seien alle Hindernisse beseitigt, jetzt sei die vollkommene Freiheit für Kirche und Ordensgemeinschaft, jetzt gebe es überhaupt keine Hemmnisse mehr. Das hatte, auch wenn das Projekt in dieser Form sich nicht realisieren lassen sollte, die wichtige Folge, daß man bei dieser Zusammenarbeit zwischen dem Bistum Limburg und der deutschen Ordensprovinz von vornherein gar nicht mehr Limburg als Stadt der Theologischen Fakultät anvisierte, sondern sozusagen auf Frankfurt fixiert war, wozu noch die verkehrsmäßige Zentralstellung Frankfurts hinzukam. Nun, dieses Projekt war natürlich mit mannigfachen Schwierigkeiten verbunden, einmal finanzieller Art: Weil Frankfurt eine Stiftungsuniversität war, hätte ein solches Projekt bedeutet, daß die Kirche selber in die Stiftung eintreten und zahlen mußte. Dazu war das Bistum Limburg alleine nicht imstande; anderseits weigerte sich die Fuldaer Bischofskonferenz, Geld dafür zu geben oder hatte auch keines. Ungelöste Probleme ebenso von der Universitätsseite her. Es war sehr fraglich, ob die Universität bereit war, nicht nur eine katholische theologische Fakultät zu akzeptieren - das wäre noch möglich gewesen - sondern nach Innsbrucker Vorbild geschlossen diese theologische Fakultät dem Jesuitenorden zu übergeben. Höhler hatte dazu folgenden Plan: Wir eröffnen erst einmal in Zusammenarbeit mit dem Jesuitenorden ein kirchliches Seminar und bieten das dann der Universität als Theologische Fakultät an. Es war natürlich sehr fraglich, ob dieses Projekt gelingen würde.
Aber das Projekt scheiterte nicht aus diesen Gründen, sondern weil Rom ein Veto sprach. Im Juni 1921 lehnte nämlich die römische Studienkongregation die genannte Errichtung einer Falkultät ab mit der Begründung, daß Frankfurt dafür nicht geeignet sei. Was bedeutet das? Es kamen hier wohl Widerstände verschiedener Seiten zusammen, möglicherweise oder gerade auch von Fulda. Aber es waren auch Bedenken, die vom Ordensgeneral Ledóchowski geteilt wurden: Frankfurt sei eine zu liberale Stadt, eine Hochburg des Liberalismus, der Freimaurerei, des Judentums. Das sei nicht die geeignete Stadt für die Ausbildung von katholischen Theologiestudenten. Und auch in der deutschen Ordensprovinz gab es vereinzelt solche Stimmen.
Daß dies zwar vorläufig das Aus für das Universitätsprojekt war, nicht aber überhaupt für ein Seminar bzw. für eine Theologische Hochschule in Frankfurt, das signalisierte kurz darauf Nuntius Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., dem Limburger Bischof Kilian. Er erklärte, er solle ruhig die Sache weiter verfolgen, aber nicht mehr von einer Universitätsfakultät sprechen; da habe man in Rom Bedenken. Tatsächlich wurde dann die Sache in den folgenden Jahren weiter verfolgt. Es gab mannigfache Schwierigkeiten. Eine Klippe war natürlich die Inflation, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Ein weiteres großes Problem war ein geeignetes Gelände. Provinzial Ludwig Kösters hatte schon 1919 seinen begehrlichen Blick auf dieses Gelände hier geworfen, auf den Park und die damalige Villa Grunelius. Es war ihm von Anfang an, als er mit seinem P. Socius einen Blick über die Mauer in das Gelände warf, klar: Das wäre eigentlich das Traumziel, das Ideal, wenn wir das bekommen könnten! Nur schien das zunächst nicht möglich. Der Besitzer erklärte, das Erbe seiner Familie sei ihm nicht feil. Es wurden verschiedene andere Plätze in Erwägung gezogen, so ein Platz in der Nähe des Lessing-Gymnasiums, der sich von der Universitätsnähe her zu empfehlen schien, ferner ein anderer Platz am Brentano-Park an der Nidda, bei dem der Einwand nur war, bei den häufigen Niddaüberschwemmungen der noch nicht regulierten Nidda sei das vielleicht etwas zu gefährlich. Im äußersten Notfall dachte man sogar daran, ganz weit draußen, etwa in Oberursel oder Weiskirchen, irgendein Gelände zu beziehen. Zuguterletzt, nach dem Tod des Besitzers, sahen die Erben des Grundstückes der Villa Grunelius die Notwendigkeit, das Grundstück zu verkaufen. Es wurde dann über den katholischen Bankdirektor Schmillen, der zur Gemeinde St. Ignatius gehörte, erworben. So hatte man von 1925 an tatsächlich dieses Gelände.
1926 beginnt die nun 75jährige Geschichte von Sankt Georgen, drei Vierteljahrhunderte, die interessanterweise jeweils eine Epoche für sich bilden, und zwar sowohl in der Zusammensetzung der Studenten als auch in den Strukturen des Hauses und in der Professorenschaft. An den Bruchstellen dieser Vierteljahrhunderte findet jedesmal ein großer personeller Wechsel der Professoren statt und, damit zusammenhängend, eine Veränderung in den theologischen Akzenten und Schwerpunkten.
Die 1. Periode von 1926 bis 1951 ist von P. Werner Löser SJ in dem grünen Büchlein gut beschrieben. Sie lässt sich im großen und ganzen so charakterisieren:
1. Die Studenten in dieser Epoche waren fast ausschließlich Priesterkandidaten der Diözesen, zunächst von
Limburg, dann sehr bald auch von Osnabrück, Hildesheim, teilweise Berlin, Aachen, der Freien Prälatur Schneidemühl, und einige andere, jedenfalls noch kaum Jesuitenscholastiker. Es gibt eine Ausnahme: die Zeit von 1936 bis in den Krieg hinein. Damals kamen die Jesuitenscholastiker der Süddeutschen und der Ostdeutschen Provinz nach Sankt Georgen. Vorher studierten alle Scholastiker in Valkenburg, aber wegen der Devisengesetze konnten die Ostdeutsche und die Süddeutsche Provinz der Niederdeutschen Provinz nicht mehr die Pensionsgelder für die Scholastiker in Valkenburg bezahlen. Deshalb kamen diese dann nach Sankt Georgen. So hat der bekannte P. Alfred Delp in dieser Zeit in Sankt Georgen Theologie studiert.
In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich folgende Frage: Wie kommt es eigentlich, daß der Jesuitenorden, der doch gerade nach 1917 unter dem Provinzial Kösters aus dem Exil heraus nach Deutschland hinein wollte, nun mit seinen eigenen Scholastikern und auch Valkenburger Professoren dennoch in Valkenburg blieb und nicht nach Sankt Georgen zog? Das hatte sicher verschiedene Gründe: Zunächst eine naturgemäße Rivalität zwischen Sankt Georgen und Valkenburg, dann die Tatsache, daß man in Sankt Georgen doch gewisse Konzessionen an das machen mußte, was an deutschen Theologischen Fakultäten üblich war: an die dort übliche Semester- und Ferieneinteilung, und auch an das Studiensystem. Man konnte also nicht einfach unverändert das jesuitische Studiensystem nach Sankt Georgen übertragen. Und dann kam sicher seit 1933 der Gedanke dazu: Die Situation der Jesuiten in Deutschland ist gefährdet, und es ist besser, man behält noch einen Fuß im Ausland, wohin man sich notfalls zurückziehen kann.
2. Diese erste Epoche ist gekennzeichnet durch einfache Strukturen. Weil Sankt Georgen nur das Priesterseminar, die Jesuitenprofessoren und einige Jesuitenbrüder umfaßte, waren damals die Ämter des Rektors der Kommunität, des Rektors der Hochschule und des Regens des Priesterseminars in einer Person vereinigt, also drei Ämter, die heute getrennt sind und fast Vollzeitbeschäftigungen bilden. Daß ein solcher Rektor gesagt haben soll: »Bis 9.00 Uhr morgens regiere ich, und danach mache ich etwas Vernünftiges«, ist zwar nicht belegt, aber vielleicht gut erfunden.
3. Diese einfache Struktur zeigte sich auch in den Bauten. Sehr bald waren natürlich große Anbauten erforderlich, da die Studentenzahl von anfangs 15 sehr schnell auf etwa 100 stieg und dann bis Herbst 1934 die festgesetzte Höchstzahl von 250 erreichte. Was zuvor bestand, war der »Altbau« oder die eigentliche »Villa« - sie wurde nach der Zerstörung im Krieg nicht wieder aufgebaut (sie befand sich an der Stelle der späteren, jetzt leer stehenden Kollegskapelle) - , außerdem der (kleinere) Grundstock des heutigen »Lindenhauses«, der freilich noch von Mietern bewohnt war, die erst 1927 auszogen. Man entwarf einen sehr großzügigen Plan: einen quadratischen Bau mit einem Innenhof, dessen einen Flügel das heutige Priesterseminar bilden sollte, während die anderen Flügel an die Offenbacher Landstraße und die Balduinstraße grenzten (die großen Fenster im Untergeschoß des heutigen Seminars verdanken diesem Projekt ihren Ursprung: sie sollten auf den Innenhof hinausgehen). Effektiv wurde nichts daraus, zunächst infolge von Widerständen der Stadt, die die Baugenehmigung nicht gab, und dann aus finanziellen Gründen. Tatsächlich wurde von diesem Rechteck nur der eine, südliche Flügel gebaut, das heutige Priesterseminar. In der ersten Bauphase 1927-29 wurde das heutige Seminar zu zwei Dritteln gebaut, in der zweiten Phase 1932-34 wurde der Ostflügel des Seminars zur Balduinstraße hin angebaut. Jetzt erst konnten wieder alle Seminaristen in Sankt Georgen wohnen: Bis Herbst 1934 mußte man, um die ständig wachsende Zahl der Studenten zu beherbergen, die in Sankt Georgen keinen Platz fanden, vier Häuser in der Balduinstraße und eines am Schaumainkai mieten. Bezeichnend ist, daß es damals in den Mitteilungen aus der Provinz hieß: »Es ist gelungen, die Zahl der Alumnen auf 250 herabzusetzen«.
Einige Streiflichter aus dieser Zeit: Im Oktober 1930 wurde für Sankt Georgen endlich ein Auto angeschafft, nämlich ein Goliath zum Lebensmitteltransport von der Großmarkthalle oder dem Schlachthof zur Hochschule. - 1932 fand das erste Sommerfest in Sankt Georgen statt, zwar noch in sehr bescheidenem Rahmen. Der Ertrag kam der Akademischen Bonifatiuseinigung zugute. Daß es Ausmaße erreichte, die wir heute kennen, ist erst ein Phänomen der 70er Jahre.
Zoologisch bot der Park einige Besonderheiten; es gab nicht nur einen Teich mit Schwänen, sondern zeitweise auch ein Gehege mit Damhirschen, die 1934 einige Junge warfen.
Sankt Georgen hatte in wissenschaftlicher Hinsicht den Ruf der Strenge gegenüber den übrigen deutschen theologischen Anstalten, wozu nicht zuletzt auch beitrug, daß bis nach dem Krieg die Vorlesungen und die Prüfungen in Latein stattfanden. Auch die theologische Ausrichtung war bis in die Zeit nach dem Krieg die, die man heute als scholastisch bzw. neuscholastisch oder traditionell bezeichnen würde. Es herrschte eine strenge und 1930 noch verschärfte Haus- und Tagesordnung. Die ganze Zeit der Seminaristen, vom Aufstehen bis zu den abendlichen Betrachtungspunkten und bis zum Zubettgehen war genau festgelegt. Schließlich wurden für die Rekreationen, d.h. die kurzen Spaziergänge nach dem Mittagessen, sogar feste Gruppen, sog. »Turmen« festgelegt, wie sie bei den Jesuiten üblich waren. Zimmerbesuche untereinander waren verboten, klerikale Kleidung auch außerhalb des Hauses vorgeschrieben.
Rektor Klein schrieb 1931: »Es gibt eher zuviel Priesteramtskandidaten, wir müssen ungeeignete
fernhalten.« Es gab allerdings auch andere Stimmen, so die des Spirituals Richstätter, der sich beim Jesuitengeneral Ledóchowski beklagte, Sankt Georgen sei das liberalste Seminar in Deutschland: Die Seminaristen könnten - natürlich nicht irgendwelche Mädchen - aber doch weibliche Verwandte, Schwestern oder Cousinen auf ihr Zimmer mitnehmen; sie trieben Sport in Turnhosen und Turnhemd, und das werde sogar von Bewohnern der Balduinstraße gesehen. Dreimal in der Woche finde bei Tisch Unterhaltung statt. Und dann das, was vor allem für Richstätter im Grunde genommen unjesuitisch war, der Liturgie werde zu viel Gewicht beigelegt: gemeinsame Vespern, missa recitata statt stiller Messe usw., während jesuitische Frömmigkeit für ihn vor allem individuell war, rein persönlich und nicht liturgisch. Das sind Kontroversen, Gegensätze, die gerade in den 30er und auch noch in den 40er Jahren in der deutschen Kirche allgemein und in Sankt Georgen insbesondere virulent waren.
Die Zeit des Nationalsozialismus und besonders die Kriegszeit war für Sankt Georgen vor allem durch äußere Eingriffe gekennzeichnet. Diese waren in den 30er Jahren zunächst noch verhältnismäßig geringfügig. Als etwa im Juni 1934 HJ-Kolonnen nachts an die Mauer pinselten: »Der schwarzen Brut haut auf die Schnut«, da rief der Rektor bei der Stadtverwaltung an, und die schickte noch am selben Tag eine Abwischkolonne, um dies zu tilgen. Zu gesteigerten Gestapo-Untersuchungen kam es seit 1938. Vor allem mit Beginn der Kriegszeit, als nur noch wenige Seminaristen im Hause waren, mehrte sich die Gefahr, daß Sankt Georgen von Parteiseite beschlagnahmt wurde. Tatsächlich aber erlitt Sankt Georgen nicht das Schicksal der meisten Ordenshäuser - zumal im Norden -, von der Gestapo aufgehoben zu werden. Der Grund war die gegenseitige Rivalität von Partei bzw. Hitlerjugend einerseits und Wehrmacht anderseits, die beide ihr begehrliches Auge auf den schönen Park und die lockenden Räumlichkeiten geworfen hatten. Zunächst wurde im Dezember 1940 in einem Teil des Seminars ein städtisches Hilfskrankenhaus eingerichtet, aber der Studienbetrieb konnte weitergehen. 1941 drohte aber die Beschlagnahme durch die HJ-Führung in Wiesbaden. Da tat der Rektor das in dieser Situation einzig Vernünftige. Er wußte: Auch die Wehrmacht interessierte sich für Sankt Georgen, hatte sogar schon vorsorglich das Haus requiriert. Er fuhr sofort zum Wehrmachtskommando nach Kassel und erreichte dort, daß die Wehrmacht der HJ zuvorkam, einen Teil des Gebäudes für ein Militärlazarett beschlagnahmte, während im übrigen Teil der Studienbetrieb weiter gehen konnte.
Im Jahre 1942 kam es allerdings in gesteigerten Maße und wiederholt zu stundenlangen Gestapodurchsuchungen des ganzen Hauses, die u. a. zur Folge hatten, daß ein Pater, nämlich der Spiritual Dehne, ins KZ Dachau eingeliefert wurde aufgrund von Aussagen, die ein Seminarist im Gefängnis über ihn gemacht hatte. Einen anderen Seminaristen - Kurt von Leers - sollte seine Weigerung, vor der Gestapo belastende Aussagen gegen die Hausleitung zu machen, das Leben kosten. Er wurde ins KZ eingeliefert, wo er sich eine offene Lungentuberkulose holte, die dann kurz nach dem Krieg zu seinem Tod führte.
Die eigentliche Zerstörung Sankt Georgens kam nicht durch die Gestapo, sondern durch den Luftangriff in der Nacht vom 18. zum 19. März 1944, der auch den größten Teil Oberrads zerstörte. Von Sankt Georgen, das schon durch vorherige Angriffe schwer getroffen war, blieben nur Ruinen übrig. Die Scholastiker und Patres, die noch da waren, gingen teils nach Marienstatt im Westerwald, wo die Zisterzienser ihnen eine Heimstatt boten, teils nach Trier.
Nach dem Kriegsende überlegte man zeitweise: Was sollte man mit den Trümmern anfangen, sollte man überhaupt wieder neu beginnen? Es setzte sich dann doch in der Provinzleitung die Entscheidung durch, wieder anzufangen. Aber der Anfang gelang nur langsam und schrittweise. Es dauerte lange, bis der Schutt beseitigt und dann schließlich der Wiederaufbau vollendet war. Im November 1945 konnte, zunächst nur für die philosophischen Semester, der Lehrbetrieb wieder beginnen, erst zwei Jahre später, im Herbst 1947, auch für die theologischen Semester. Der Aufbau dauerte im großen und ganzen bis 1950. Bis dahin waren die alten Gebäude, die schon vor dem Krieg bestanden hatten, außer der Villa (dem »Altbau«) im großen und ganzen wiederhergestellt.
Die zweite Periode von 1951 bis 1976 ist charakterisiert durch die Zweigleisigkeit von Seminar und Scholastikat. In dieser Zeit studieren nicht nur die Priesteramtskandidaten der Diözesen in Sankt Georgen, sondern auch die Jesuitenscholastiker. Aber es handelt sich um eine Doppelung von zwei verschiedenen Institutionen. Beide sind getrennt, vor allem in den Vorlesungen. Es gibt bis 1970 nebeneinander herlaufend auf der einen Seite die Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen für die Priesterkandidaten, auf der anderen Seite die Theologische Fakultät Societatis Jesu. Es gibt unterschiedliche Vorlesungen, auch dadurch bedingt, daß der Studienrhythmus unterschiedlich ist. Die Seminaristen haben die deutsche Semestereinteilung mit einer relativ langen Ferienzeit, die Jesuiten haben das jesuitische Studiensystem, das nur im Herbst größere Ferien kennt, und ansonsten das Studienjahr. Nur wenige Vorlesungen werden im Lauf der Zeit gemeinsam sein. Die Jesuiten kommen 1950 nach Frankfurt. Valkenburg war im Juli 1942 von der Gestapo aufgehoben worden, also nach der deutschen Besetzung Hollands. Es wird dann nach dem Krieg nicht wieder neu eröffnet, die Theologische Fakultät der Gesellschaft Jesu beginnt stattdessen nach dem Krieg ihre Tätigkeit in Büren in Westfalen. 1950 geschieht der Umzug nach Sankt Georgen. Freilich hat man in den ersten Jahren 1950-53 noch keine Scholastiker in Sankt Georgen, da für die Kriegszeit die Eintritte ausgefallen sind; erst 1953 kommt der Schub der Neuen. Das bedeutet: Von da an müssen neue Gebäude erstehen. Es sind die Gebäude im Westteil: 1954 wird das »Hochhaus« fertig, im Herbst 1955 das SJ-Refektor (als solches bis 1986 genutzt, der jetzige Hörsaal 1), Ende 1957 die (jetzt leerstehende) SJ-Kapelle, 1961 die Aula.
Etwa vom Anfang der 50er bis in die 70er Jahre wird Sankt Georgen durch eine neue Professorengeneration geprägt, zu der Namen wie Johannes Hirschmann, Otto Semmelroth, Joseph Loosen, Alois Grillmeier und Heinrich Bacht gehören, während Oswald von Nell-Breuning die große verbindende Konstante der drei Epochen bildet. Neue Akzente theologischer Art kommen zum Ausdruck, z.B. als im Jahre 1951 das 25jährige Jubiläum von Sankt Georgen mit 80 bis 90 ehemaligen Alumnen gefeiert wird. Das Thema dieses Jubiläums lautet: »Gott und Mensch in Begegnung«. Die Begegnung von Gott und Mensch wurde erörtert in den Dimensionen Kirche (O. Semmelroth), Gnade (J. Loosen), Glauben (Johannes Beumer), Gewissen (Josef Fuchs). Dies ist Ausdruck einer Theologie, die vor allem aus dem Zentralbegriff der persönlichen Begegnung lebt. Und in dem Zusammenhang entsteht auch eine gesteigerte Bedeutung Sankt Georgens für die deutsche katholische Öffentlichkeit gerade in den 50er Jahren. Patres wie Joh. Hirschmann, Hermann-Josef Wallraff und O. von Nell-Breuning sind auch in der deutschen Öffentlichkeit bei der Auseinandersetzung mit den Fragen von Staat und Gesellschaft in höchstem Maße präsent.
Die große Stunde der Sankt Georgener Theologie wird dann das II. Vatikanische Konzil sein. Drei Sankt Georgener Professoren waren beim Konzil als offizielle Konzilstheologen anwesend und haben auch mehr oder weniger großen Einfluß auf verschiedene Konzilsdokumente genommen: O. Semmelroth vor allem durch seine Mitarbeit bei der Kirchenkonstitution »Lumen Gentium« und der Offenbarungskonstitution »Dei Verbum« als theologischer Berater von Bischof Hermann Volk von Mainz, A. Grillmeier, in seinen letzten Lebensjahren zum Kardinal ernannt, gerade durch seine dogmengeschichtlichen Kenntnisse, und J. Hirschmann als Moraltheologe besonders durch seine Mitarbeit an der Pastoralkonstitution »Gaudium et Spes«.
Die dritte Periode beginnt mit ziemlichen Turbulenzen. Einerseits war es 1970 zur Vereinigung der beiden bisher parallel laufenden Institutionen der Theologischen Fakultät SJ und der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen gekommen. Es wurde eine neue gemeinsame Studienordnung geschaffen. Die bisherigen Ordnungen und festgelegten Traditionen im Scholastikat und im Priesterseminar waren zerbrochen. Der entscheidende Umbruch, optisch erkennbar daran, daß die Jesuitenscholastiker nicht mehr einen Talar tragen, sondern Alltagskleidung, geschieht mit dem Übergang des Rektorats von P. Josef Schroll zu P. Ludwig Bertsch im Herbst 1967. Eine neue Ordnung für das Scholastikat zu finden - jetzt auf der Grundlage neuer Direktiven der jesuitischen Generalkongregation - dauert lange, es geschieht eigentlich erst am Anfang der 80er Jahre. Die zunächst erstellte Studienordnung und die Satzung tragen in vielem das Gepräge der 68er Jahre an sich, das bei der Neuformulierung Ende der 80er Jahre zu korrigieren ist. Diese Studienordnung brachte sicher manche Fortschritte und löste die einseitig scholastische Fixierung, war aber, da allzu viel der Eigeninitiative zugemutet und überlassen wurde, gerade bei den schwächeren Studierenden für ein effektives und gründliches Studium wenig hilfreich.
Ansonsten ist die dritte Zeit durch Folgendes gekennzeichnet:
1. Als neue Gruppe neben die Scholastiker und die Seminaristen treten nun die Laientheologen bzw. die Externen. Dies beginnt Mitte der 70er Jahre. Zunächst sind es nur einige ehemalige Seminaristen, die wegen der Zölibatsverpflichtung nicht mehr Priester werden wollen, aber ihr Theologiestudium weiterführen möchten. Dazu kommen andere Studentinnen und Studenten, und deren Zahl wird nach und nach größer und bildet schließlich die Mehrheit der Studentenschaft.
2. Parallel dazu ergibt sich die Notwendigkeit einer Trennung der Bereiche Priesterseminar - Hochschule - Jesuitenkommunität.
3. Personell löst im Laufe der 70er Jahre eine neue Professorengeneration die alte ab: Karl Frielingsdorf, Günter Switek, Johannes Beutler, Erhard Kunz, Peter Knauer, Werner Löser, Medard Kehl, Reinhold Sebott, Philipp Schmitz, Hermann Josef Sieben, Gerhard Podskalsky, Klaus Schatz; Friedhelm Hengsbach, Hans-Ludwig Ollig, Norbert Baumert, Hans-Winfried Jüngling und Helmut Engel kommen etwas später, Ludwig Bertsch und Norbert Lohfink verbinden noch mit der Generation der 60er Jahre.
4. Sodann ist diese Zeit charakterisiert durch die Baumaßnahmen, die »Albert-Giesener-Bauten«. Am Beginn der 80er Jahre steht die Renovierung des Hochhauses an. 1984 kommt es zum Neubau des Bibliotheksbereichs. Vorher bestanden viele kleine Seminarräume durch das ganze Kolleg verstreut: Flickwerk. Sie werden jetzt alle zusammengeführt im Freihandbereich der neuen Bibliothek, Seminarräume für die Hochschule werden frei. 1986 wird der Bereich der Wirtschaftsräume neu gebaut und geordnet: Küche mit Vorratsräumen, Jesuitenrefektor und die wunderschöne Mensa, die den Notbehelf, Mahlzeiten durch einen Kellergang (den »Suppentunnel«) zum »Externenraum« zu transportieren, ablöst.
5. Weiter ist diese Zeit dadurch gekennzeichnet, daß in ihrem Verlauf eine wichtige Gruppe wegschmilzt, die Sankt Georgen bis dahin wesentlich mitgestaltet und mitgetragen hatte, die Jesuiten-Brüder. Auch wenn es vorher immer schon einige Angestellte gab (sie hießen »Hausdiener«), die leitenden Posten und tragenden Arbeiten in allen Bereichen von Pforte bis Refektor und Küche, Bibliothek bis Sekretariate, Buchhaltung bis Wäscherei und Gebäudereinigung usw. wurden von Jesuitenbrüdern versehen. 1960 gab es in Sankt Georgen 26 Brüder, 1970 noch 23, 1980 waren es noch 17, 1990 waren es nur noch 5, übriggeblieben ist nur noch Br. Heinrich Leifeld. An die Stelle der Brüder treten Angestellte, gerade auch in der Leitung der einzelnen Bereiche von der Bibliothek bis zur Küche. Sie sind jetzt die Mitarbeiter, die Sankt Georgen mittragen und sein Funktionieren ermöglichen. Hinzu kommt seit 1978 eine Gruppe von Dernbacher Schwestern, die an verschiedenen Stellen mithelfen und eine eigene Kommunität bilden.
Durch die Bauten, die neuen Ordnungen seit Anfang der 80er Jahre, neue Studienordnung, neue Satzung usw., personell durch eine auch zahlenmäßig starke Professorengeneration ist Sankt Georgen von Anfang der 80er Jahre an bis jetzt durch eine ausgesprochene Stabilitätsphase gekennzeichnet. Allerdings geht in dieser Zeit die Zahl der Priesterkandidaten im Seminar von der Höchstzahl 139 im Jahre 1982 immer weiter zurück bis auf etwa 30. Gleiches gilt für die Zahl der Scholastiker. Für das Scholastikat werden neue Regelungen geschaffen. 1989 wird in der Uhlandstraße ein Stock gemietet, wo einige Scholastiker wohnen, später bilden alle Scholastiker im Hauptstudium in der Uhlandstraße eine Wohngruppe. Die Studentenzahl pendelt sich bei einer stabilen Zahl von etwa 300 Immatrikulierten ein, davon etwa 200 im Diplomstudiengang und bis zu 100 in postgradualen Studien.
Diese Epoche Sankt Georgens ist jetzt dabei, zu Ende zu gehen. Sankt Georgen bietet bis heute ja noch eine Besonderheit, die sich nirgendwo sonst in der Welt in einer Lehranstalt der Gesellschaft Jesu findet: Außer Prof. Splett sind alle Professoren Jesuiten. Das wird in der Zukunft nicht mehr so sein. Der Nachwuchs, den die Gesellschaft Jesu hat, ermöglicht wohl, eine Mehrheit der Professuren auch künftig mit Jesuiten zu besetzen, auch wenn die bis jetzt tragende Generation innerhalb des nächsten Jahrzehnts abgelöst wird, aber eben nicht mehr alle.
Sankt Georgen wird auch in den nächsten Jahren manchen Wandel durchmachen. Die zurückliegenden ersten 75 Jahre ermutigen uns jedoch zu hoffen, dass Sankt Georgen auch in der nächsten Epoche seiner Geschichte die ihm gestellten Aufgaben in Kirche und Gesellschaft erfüllen wird.