Überlieferung der Werke Hugos von Sankt Viktor in den Volkssprachen
Berarbeitet von Marion Kramp
Außer mit den lateinischen Schriften Hugos von St. Viktor beschäftigt sich das Hugo von Sankt Viktor - Institut
mit den mittelalterlichen Übersetzungen seiner Werke in die Volkssprachen.
Der Forschungsstand: Rudolf Goys Recherchen in den siebziger Jahren bezogen sich allein auf die lateinische
Überlieferung.(1) Er verzeichnete nur diejenigen volkssprachlichen
Handschriften, die ihm bei seinen Recherchen durch Zufall in die Hand gerieten. Seine Aufstellung ist demzufolge
lückenhaft. Die Erforschung der volkssprachlichen Überlieferung ist daher ein nahezu unbetretener Grund. Die nun
folgende kurze Darstellung befaßt sich mit einem ersten Eindruck dessen, was zu erwarten ist.
Goy gliedert die entsprechenden Handschriften nach den heutigen Nationalsprachen, führt also Übertragungen
ins Deutsche (11), Niederländische (9), Französische (9), Englische (2), Italienische (2) und Portugiesische (1)
auf. Diese Einteilung ist nicht ohne Probleme. So ergibt sich zum Beispiel die Frage, inwieweit eine Unterscheidung zwischen
niederdeutschen und flämischen Handschriften nötig und sinnvoll ist. Es muß um eine sprachliche Einordnung
gehen, nicht um eine nationale. Denn Landesgrenzen sind nicht unbedingt Sprachgrenzen, und einheitliche Nationalsprachen im
modernen Sinne gibt es am Ende des Mittelalters noch nicht. Eine niederdeutsche Handschrift mag einer aus den heutigen
Niederlanden ähnlicher sein als einer bairischen. Ob und wie eine sinnvolle Einteilung aussehen kann, muß sich
aber erst aus einer Untersuchung der einzelnen Handschriften ergeben.
Über Goy hinaus sind drei skandinavische Handschriften von "De arrha anime" bekannt und bereits in kritischer
Edition erschienen.(2) Das Panorama an Sprachen, das sich aus den uns
bisher bekannten Handschriften ergibt, läßt vermuten, daß noch in weiteren europäischen Sprachen
Übersetzungen von Werken Hugos von Sankt Viktor existieren.
In allen Volkssprachen betrifft die Übersetzungstätigkeit im ausgehenden Mittelalter im wesentlichen Texte,
die im weitesten Sinne das geistliche Leben betreffen. An erster Stelle sind hier "De arrha anime" und die den Spuria
zuzurechnende "Expositio in Regulam S. Augustini" zu nennen. Das dürfte ganz praktische Gründe haben: Für eine
Übersetzung ist Voraussetzung, daß der Inhalt des Textes für einen Rezipientenkreis von Bedeutung ist, der
die Originalsprache nicht oder nicht gut genug verstehen kann. Wer sich im Mittelalter mit Philosophie oder Theologie
beschäftigte, war lateinisch gebildet. Wer die Beziehung zu Gott und daher praktische Anweisungen für sein
geistliches Leben suchte, nicht unbedingt. Insofern ergab sich gerade im Bereich der Spiritualität ein Bedarf an
Übersetzungen.
Die Handschriften stammen aus dem 13. - 17. Jahrhundert, wobei der Schwerpunkt der Überlieferung im 15. Jahrhundert
liegt. Eine eventuelle Drucktradition in den Volkssprachen ist noch völlig unerforscht.
Die Projekte
1. Spiritualisierung durch Übersetzung? Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Rezeption von Hugos von Sankt Viktor „De uirtute orandi“
Die These: Die Arbeit beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit die deutsche Übersetzung der Werke Hugos von
Sankt Viktor im späten Mittelalter eine Spiritualisierung mit sich brachte, zu deren Gunsten der
philosophische-theologische Hintergrund, der nur den lateinisch Gebildeten zugänglich war, vernachlässigt
wurde.
Die Quellen:
1.) Rastatt, Historische Lehrer-Bibliothek, Hs. 10 (K198) Die Übersetzung stammt aus der Mitte des 15.
Jahrhunderts und ist in einem mitteldeutschen Dialekt abgefaßt. Sie umfaßt den kompletten Text von De uirtute
orandi, der zusammen mit der Theologia mystica des Johannes Gerson übersetzt wurde. Beide Texte sind zusammen mit
lateinischen Werken Gersons in der
Handschrift enthalten.
2.) Greifswald, Universitätsbibliothek, Norddt. Hs. 5 Die Handschrift läßt sich auf 1529 datieren. Sie
enthält innerhalb einer Übersetzung von In psalmos catena des Petrus von Herrenthal einen wohl vom Übersetzer
frei verfaßten Text mit einem längeren Zitat aus De uirtute orandi von Hugo von Sankt Viktor. Es handelt sich
hierbei also nicht um eine Übersetzung des Werkes - wie im Handschriftenkatalog (Deutsch, Josef: Die Handschriften der
Abteilung für Niederdeutsche Literatur bei der Universitätsbibliothek Greifswald, Leipzig 1926 [=Zentralblatt f.
Bibliothekswesen, Beiheft 57]) und bei Rudolf Goy (1) verzeichnet, sondern um
ein eigenes kleines Werk, das in In psalmos catena eingefügt worden ist und dessen Verfasser nur auf wenige Sätze
Hugos zurückgegriffen hat.
3.) Den Haag, Königliche Bibliothek 129 A 10 Die 1320 in Brabant entstandene Handschrift enthält
mittelniederländische Versübersetzungen französischer Prosaepen (Arturs doet, Lanceloet, Quèeste van
den Grale) und weitere Romane aus dem Artuskreis. Als Prolog zu Arturs doet wurde das erste Kapitel von De uirtute
orandi in niederländische Verse übersetzt.
Das Ergebnis:
De uirtute orandi ist nach dem Vorbild der antiker Rhetoriken wie Ciceros De inuentione und der unter dessen Namen
überlieferten Rhetorica ad Herennium aufgebaut, die Hugo von Sankt Viktor sehr wahrscheinlich bekannt waren.(2) Das Werk behandelt somit die oratio in erster Linie als „Rede“, die
Gebet sein kann - wenn sie an Gott gerichtet ist - aber nicht
zwangsläufig Gebet sein muß. Diese umfassende Bedeutung des Begriffes oratio ist in den Übersetzungen nicht
wiedergegeben. Bei der Übersetzung in der Handschrift aus Rastatt weist bereits die Auswahl der zitierten Sätze
darauf hin, daß oratio hier nicht im Rahmen einer Rhetorik verstanden wird, denn der eigentliche Kernteil des Werkes,
die Einteilung der oratio in verschiedene species, wurde überhaupt nicht hinzugezogen, ja, es ist sogar wahrscheinlich,
dass sie dem Übersetzer gar nicht vorlagen. Es geht hier statt dessen um eine Frage, die in De uirtute orandi eher
nebesächlich behandelt wird, nämlich ob es sinnvoll ist, Psalmen zu beten, die nicht dem Anliegen oder
Gemütszustand des Beters entsprechen. Ähnlich verhält es sich bei der nur
am Rande berücksichtigten mittelniederländischen Übersetzung - auch hier wurde ein Abschnitt herausgegriffen,
der innerhalb der Komposition von De uirtute orandi nur Hinführung auf die nachfolgende Einteilung der oratio ist, und
bei dem die umfassende Bedeutung des Wortes oratio noch nicht deutlich wird. Die Rastätter Übersetzung bietet zwar
den kompletten Text, so daß der Aufbau analog einer antiken Rhetorik bestehen bleibt, die Untersuchung des Vokabulars
ergab jedoch bei 3% der Verben und Substantive eine Spiritualisierung gegenüber dem lateinischen Text.
(1) GOY, Rudolf: Die Überlieferung der Werke Hugos von Sankt Viktor: Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters, Stuttgart 1976 [= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 14]. [zurück]
(2) Hugos Lehrer Wilhelm von Champeaux hatte Kommentare zu den gängigen rhetorischen Texten verfaßt, und es ist gut möglich, daß zu Hugos Zeit manches interessante Werk zu diesem Thema zu finden war, so Feiss, Hugh: De uirtute orandi. Introduction, Apparatus biblicus et fontium. unveröffentlicht. Der Bibliothekskatalog von Sankt Viktor verzeichnet 1514 unter anderem Quintillians Institutio oratoria, Ciceros De inuentione und die anonyme Schrift Ad Herennium (GERZ-VON BÜREN, V./OUY,G. (edd.): Le catalogue de l‘abbaye de Saint-Victor de Paris de Claude de Grandrue, Paris 1983, p.349-358. [zurück]
2. Übersetzungen der Expositio in Regulam Sancti Augustini des Liutbert von Saint-Ruf (Pseudo-Hugo von Sankt Viktor)
Die unter dem Namen Hugos von Sankt Viktor überlieferte Expositio in Regulam Sancti Augustini, die in jüngerer
Zeit von Jean Châtillion mit großer Wahrscheinlichkeit dem Abt Liutbert von Saint-Ruf (1100-1109) zugeschrieben
worden ist, erfreute sich im Mittelalter einer großen Beliebtheit, wie an der großen Breite der handschriftlichen
Überlieferung zu erkennen ist.
Diese große Verbreitung ist sicherlich unter anderem auch auf die Popularität der Augustinusregel selbst
zurückzuführen, die spätestens seit dem Verbot neuer Ordensregeln auf dem vierten Laterankonzil eine besondere
Bedeutung bekommen hatte, konnte sie doch von den sich neu bildenden religiösen Gruppierungen übernommen werden,
ohne daß diese die neuen
geistlichen Ideale von radikaler Armut und Vita apostolica hätten aufgeben müssen.
In der Dissertation wird anhand von deutschen Übersetzungen der Expositio in Regulam Sancti Augustini die Frage
untersucht, ob mittelalterliche Übersetzungen selbst eine „Modernisierung“ darstellen und darüber
hinaus als Faktor der „Modernisierung“ im mittelalterlichen Europa gewirkt haben. Dabei ist davon auszugehen,
daß der Begriff der „Modernisierung“ im heutigen
Sinne auf das Mittelalter kaum angewendet werden kann - denn Erneuerung war in der Regel ein ideeller Rückgriff auf das
ganz Alte, der dann aber faktisch zu etwas ganz Neuem führte, das im erst Nachhinein vom Historiker mit dem heutigen
Begriff „Modernisierung“ gefaßt werden kann.
Bei Modernisierung handelt es sich um ein Phänomen, das nur in Relation greifbar wird. Hier sind verschiedene Ebenen zu bedenken: die eventuelle Modernität des Kommentars gegenüber der Regel, die der Übersetzung gegenüber dem lateinischen Text, und schließlich die der einen Übersetzung gegenüber der oder den übrigen. Über einen breiten Zeitraum, nämlich vom 13. bis ins 17. Jahrhundert entstandene Übersetzungen der Expositio dürften ausreichendes Quellenmaterial zur Untersuchung dieser Phänomene liefern.
Von besonderem Interesse sind auch die Zusammenhänge zwischen den Übersetzungen, den religiösen Bewegungen
und den kirchlichen Institutionen der entsprechenden Zeit. Die Provenienz der Handschriften, soweit bisher bekannt, weist vor
allem auf eine Nähe zum Dominikanerorden, der ab dem 13. Jahrhundert die religiöse Frauenbewegung geistlich
betreute
und in seine Frauenklöster aufnahm. Es bleibt zu untersuchen, inwieweit die Institution des Ordens in Verbindung mit den
Übersetzungen des Regelkommentars stand.
Das Projekt wird im Rahmen des Tübinger Promotionskollegs „Kirche und Religion als Faktor der „Modernisierung“ im mittelalterlichen Europa. Das Beispiel der geistlichen Herrschaften und Institutionen“ durchgeführt und von der Hanns-Seidel Stiftung ideell und finanziell gefördert.
(1) GOY, Rudolf: Die Überlieferung der Werke Hugos von Sankt Viktor: Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters, Stuttgart 1976 [= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 14]. [zurück]
(2) HARDARSON, Gunnar: Littérature et Spiritualité en Scandinavie médiévale: La Traduction norroise du "De Arrha Anime" de Hugues des Saint-Victor. Études historique et Édition critique, Turnhout 1995 [= Bibliotheca Victorina; 5]. [zurück]
Projektdauer: 1998-2002
Abschlußpublikation siehe Corpus Victorinum. Textus historici
Volumen 2 und ebenso Corpus Victorinum. Instrumenta Volumen 2.