Anlage 1 zum Mantelschutzkonzept Sankt Georgen

1. Gewalt und Machtmissbrauch

Definitionen von Gewalt unterliegen kulturellen und zeitlichen Verständnissen, die sich über die letzten Jahrzehnte weiterentwickelt haben. Eine Definition wurde von der UNO wie folgt formuliert:

„Gewalt ist der tatsächliche oder angedrohte absichtliche Gebrauch von physischer oder psychischer Kraft oder Macht, die gegen sich selbst oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ (https://www.unicef.de/mitmachen/ehrenamtlich-aktiv/-/arbeitsgruppe-muenchen/-das-geht-mich-nichts-an--es-ist-schliesslich-nicht-meine-familie---/236312).

Bei Machtmissbrauch und Gewalt überschreiten TäterInnen die Grenzen der betroffenen Menschen und verletzen sie physisch, psychisch und spirituell.

Merkmale sind:

  • ein Machtgefälle, das ausgenutzt wird, auch Abhängigkeiten. Diese können strukturell, durch soziale Gewohnheiten oder kurzzeitig gegeben sein, bedingt durch Gruppendynamik, Alkoholkonsum und besondere Notlagen.
  • die fehlende Zustimmung oder die praktische Unmöglichkeit, dem Missbrauch entgegenzuwirken, weil Macht-, Reife- oder Altersunterschiede bestehen.
  • Grenzverletzungen und Manipulationen, auch in subtilen Formen: Überredung, Zwang, Erpressung, Nötigung, Bedrohung und/oder körperliche Gewalt.

Das Mantelschutzkonzept umfasst also verschiedene Formen von Missbrauch und Gewalt, die zum besseren Verständnis in einigen Kategorien beschrieben werden.

2. Physische Gewalt

Hierunter werden verschiedene Formen körperlicher Gewalteinwirkung oder Bedrohung verstanden, etwa gestoßen, gekratzt, gebissen, geohrfeigt, getreten, festgehalten oder geschlagen zu werden. Hinzu kommen Formen der Bedrohung, eine Person körperlich anzugreifen, zu verletzen, auch mit Gegenständen oder Waffen, oder umzubringen.

3. Psychische Gewalt

Verschiedene Formen von Verletzungen geschehen z.B. durch Beschimpfungen, Demütigungen, Erniedrigungen, Auslachen, Schikanieren, Anschreien, Beleidigungen, Einschüchterungen, Abwertungen, Drohungen, Erpressungen, Verleumdungen und gezielte Ausgrenzungen. 

Hierzu gehören auch Rassismus, Sexismus, Stalking und Mobbing sowie Diskriminierung aufgrund von Alter, geschlechtlicher Identität (Gender), Religion, sexueller Orientierung, körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, körperlichem Aussehen und politischer oder sonstiger Überzeugung.

Psychische Gewalt kann durch Einzelne, Gruppen sowie institutionell geschehen.

4. Sexualisierter Machtmissbrauch

Sexualisierter Machtmissbrauch umfasst jede sexuelle Handlung, die an oder vor Menschen ausgeübt wird, gegen deren Willen oder jedenfalls ohne deren Zustimmung, die sie aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht ausdrücklich verweigern können. TäterInnen nutzen ihre Macht- und Autoritätspositionen aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten Betroffener zu befriedigen.

Sexuelle Handlungen können mit oder ohne Körperkontakt geschehen, auch über digitale Medien.

Bei sexualisiertem Machtmissbrauch lassen sich verschiedene Formen unterscheiden:

  • Grenzverletzungen: unangemessenes Verhalten, hinter dem nicht zwingend eine Absicht stehen muss
  • Übergriffe: absichtsvolles schadhaftes Verhalten, beispielsweise durch regelmäßig problematischen Umgang mit Nähe und Distanz, dominante Machtausübung, Einschüchterung, erniedrigendes oder diskriminierendes Verhalten
  • sexuelle Gewalt

Im Strafgesetzbuch (StGB) des Bundes zählen zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener "sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung" (StGB §177) und "sexuelle Belästigung" (StGB §184i). Das Kirchenrecht (CIC) kennt Handlungen nach c. 1398 §2 CIC in Verbindung mit Art. 6 §1 Sacramentorum Sanctitatis Tutela (SST), nach c. 1385 CIC in Verbindung mit Art. 4 §1 n. 4 SST sowie nach Art 4 §1 n. 1 SST in Verbindung mit c. 1384 CIC, soweit sie an Minderjährigen oder an Personen, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist, begangen werden, sowie Handlungen nach Art. 1 §1a) Vos estis Lux mundi.

5. Spiritueller Machtmissbrauch

Spiritueller, geistlicher oder religiöser Machtmissbrauch geschieht häufig im Kontext von Seelsorge und Geistlicher Begleitung.

Geistlicher Machtmissbrauch wird ausgeübt, wenn mittels religiöser Inhalte oder unter Berufung auf eine geistliche Autorität Druck ausgeübt bzw. Angst erzeugt wird oder Abhängigkeiten hergestellt bzw. bestehende Abhängigkeiten ausgenutzt werden. Dabei werden SeelsorgerInnen und Geistliche BegleiterInnen unreflektiert mit der Stimme Gottes identifiziert, und es kommt zu folgenschweren Verwechslungen. Geistlicher Machtmissbrauch liegt demnach vor:

  • wenn der Seelsorger/die Seelsorgerin sich selbst mit der Stimme Gottes verwechselt,
  • wenn die begleitete Person den Seelsorger/die Seelsorgerin für die Stimme Gottes hält,
  • wenn beide dieser Verwechslung erliegen.

Als Formen spirituellen Missbrauchs sind bekannt:

  • spirituelle Vernachlässigung: Sie liegt vor, wenn Menschen nicht die Unterstützung und Begleitung bekommen, die sie für ihre spirituelle Entwicklung und Selbstbestimmung brauchen. Es kommt darauf an, dass ihnen nicht nur ein einziger Weg, nicht nur eine einzige Lebensdeutung vorgezeichnet wird, sondern mehrere mögliche Wege und Deutungen angeboten werden. Nur so kann die begleitete Person eigenverantwortlich auswählen und entscheiden.
  • spirituelle Manipulation: Vernachlässigung wird zur Manipulation, wenn SeelsorgerInnen Menschen zu einer bestimmten Entscheidung drängen und ihnen zugleich vermitteln, dass sie selbst diese Entscheidung getroffen haben. Manipulation geschieht durch Charisma und Machtausübung, durch subtile Abwertung von Gefühlen, auch durch Gebetsformen, in denen die Absicht der begleitenden Person mit dem Willen Gottes gleichgesetzt wird, und durch Abhängigkeiten, wenn in Gemeinschaften forum internum und forum externum nicht getrennt sind.
  • spirituelle Gewalt: Sie liegt vor, wenn der Wille des begleiteten Menschen gebrochen werden und die Person sich den Anweisungen des/der SeelsorgerIn unterwerfen soll. Solche Gewalt wird ausgeübt, wenn Beziehungen zu Familie oder FreundInnen verboten werden, wenn alle Korrespondenz offengelegt werden soll, wenn bestimmte ärztliche oder therapeutische Behandlungen entweder verboten oder vorgegeben werden.

Auffällig ist die Analogie, die sich zwischen spiritueller Vernachlässigung, Manipulation und Gewalt auf der einen Seite und sexueller Grenzverletzung, Übergriff und Gewalt andererseits auftut: Sexuelle Grenzverletzungen lassen sich nicht immer an einer Absicht festmachen, spirituelle Vernachlässigung auch nicht. Sexuelle Übergriffe dagegen erfolgen zielgerichtet, spirituelle Manipulation auch. Sexueller Missbrauch ist Gewalt, spiritueller Missbrauch auch. Betroffene erfahren systemisch begünstigte Verletzungen ihrer sexuellen oder ihrer spirituellen Selbstbestimmung.

6. Strategien von TäterInnen

Bei Machtmissbrauch in allen Formen setzen TäterInnen bewusst oder unbewusst Strategien ein, um betroffene Personen zum Erdulden von Gewalt zu bewegen und zur Verheimlichung der Taten beizutragen. Dazu gehören:

  • Gewinnen des Vertrauens der Betroffenen und Schaffung psychischer und emotionaler Abhängigkeiten;
  • Bevorzugung sowie Hervorhebung von Betroffenen als besondere Menschen und/oder psychische Gewalt wie Erniedrigungen, Demütigungen, um sie zu verunsichern;
  • Isolierung von Betroffenen aus unterstützenden und stärkenden sozialen Beziehungen und Strukturen;
  • schrittweise erfolgende Grenzverschiebungen und -überschreitungen, um die Gewalttaten zu normalisieren;
  • Umkehr von Verantwortung und Schuld, indem Betroffenen eingeredet wird, dass sie den Gewalthandlungen zustimmen würden oder dass TäterInnen eigenen Schwächen ausgesetzt seien, die mit der Besonderheit der Betroffenen begründet werden;
  • Drängen zur Geheimhaltung, da sonst Negatives für Betroffene geschehen würde, auch mit Drohungen des Entzugs von Nähe, von öffentlicher Bloßstellung, Schaden für die Familie, körperlicher Gewalt oder potenziellen Schäden für TäterInnen wie Verlust des Arbeitsplatzes, der Reputation oder Strafverfolgung;
  • Streben nach Selbstschutz durch Nähe zu Verantwortlichen oder Übernahme machtvoller Ämter;
  • nicht nur aktive Handlungen, sondern auch Unterlassungen, etwa wenn Verantwortung verweigert wird, beispielsweise bei der Wahrnehmung der Fürsorge-, Informations- und Aufsichtspflicht.

7. Häufigkeiten von Gewalt gegen Frauen und Männer im Erwachsenenalter

Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Ursula Müller & Monika Schröttle [2004], Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, ergab Folgendes:

  • 40 % der befragten Frauen haben – unabhängig vom Täter-Opfer-Kontext – körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlebt. Unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung haben 58 % der Befragten erlebt.
  • 42 % aller befragten Frauen gaben an, Formen von psychischer Gewalt erlebt zu haben, die von Einschüchterungen und aggressivem Anschreien über Verleumdungen, Drohungen und Demütigungen bis zu Psychoterror reichten.
  • Rund 25 % der in Deutschland lebenden Frauen haben Formen körperlicher oder sexueller Gewalt (oder beides) durch aktuelle oder frühere BeziehungspartnerInnen erlebt. (S. 7)

Eine Pilotstudie zu Gewalt gegen Männer (Ludger Jungnitz et al. [2004], Gewalt gegen Männer – Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland. Ergebnisse der Pilotstudie im Auftrag des BMFSFJ, ergab Folgendes:

  • Körperliche Gewalt widerfährt Männern überwiegend in der Öffentlichkeit und Freizeit, psychische überwiegend in der Arbeitswelt.
  • Die Ergebnisse dieser wie auch anderer Studien weisen darauf hin, dass ein Großteil der körperlichen Gewalt gegen erwachsene Männer in der Öffentlichkeit stattfindet. Etwa jeder Zehnte gibt an, dass ihm zumindest einmal innerhalb der letzten fünf Jahre ernsthaft angedroht wurde, ihn körperlich anzugreifen oder zu verletzen. In der gleichen Größenordnung wurden Männer in der Öffentlichkeit und Freizeit wütend weggeschubst. Drei bis fünf Prozent der befragten Männer berichten, dass etwas nach ihnen geworfen wurde, das sie verletzen könnte, dass sie mit einer Waffe oder auf andere Weise ernsthaft bedroht wurden oder dass sie getreten, gestoßen, hart angefasst, heftig weggeschleudert oder geschlagen wurden. Nur etwa ein Prozent der Befragten gibt an, verprügelt oder zusammengeschlagen worden zu sein.
  • Gut ein Viertel der befragten Männer berichtet insgesamt über psychische Gewaltwiderfahrnisse in den letzten fünf Jahren. Etwas über der Hälfte dieser Widerfahrnisse ist in den Bereich Arbeitswelt einzuordnen. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Etwa jeder achte Mann ist von Vorgesetzten oder KollegInnen schwer beleidigt, eingeschüchtert oder aggressiv angeschrien worden. Jeder elfte Mann hat erlebt, im Arbeitszusammenhang verleumdet worden zu sein oder dass bei anderen Schlechtes über ihn verbreitet wurde. Jeder zwölfte ist in der Arbeitswelt auf verletzende Art und Weise lächerlich gemacht, gehänselt, abgewertet oder gedemütigt worden. (S. 7ff.)
  • 23 % der befragten Männer berichteten von körperlicher oder sexualisierter Gewalt in einer Partnerschaft. Von psychischer Gewalt und sozialer Kontrolle innerhalb von Partnerschaften wurde wesentlich häufiger berichtet. (S. 11)

Bei Menschen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen ist der Anteil an Gewaltbetroffenen deutlich höher (Monika Schröttle et. al. [2013], Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung in Deutschland).