Michael-Thomas Liske: Lassen Aristotelische Tugenden sich als rationale Vermögen gemäß Metaphysik Θ 2 und 5 auffassen?

Die rationalen Vermögen sind bewusst im Hinblick auf den Begriff des zu bewirkenden Zustands oder Gegenstands erworben. Dank dieses Logos oder Wissens um die Definition des zu bewirkenden Ziels können sie nicht bloß wie die angeborenen naturalen Vermögen angewandt werden oder nicht, sondern sind für inhaltlich gegensätzliche Resultate offen. Bei den rationalen Vermögen im engeren Sinne, den Kunstfertigkeiten, erwerben wir durch Einübung wertneutrale operative Fähigkeiten, so dass erst eine hinzukommende Entscheidung eine eindeutige Verwirklichung erlaubt. Bei den Tugenden üben wir uns in ein Vermögen ein, dem eine sittliche (Grund-)Ausrichtung der Entscheidungen integriert ist, das dennoch prinzipiell offen bleibt. Um in einer Situation die Handlung herauszufinden, die äußerlich die Merkmale einer Tugend hat, muss die Naturanlage zum rationalen Vermögen entfaltet sein. Dieses ist in der Tugend zur Disposition weiterentwickelt, sich für diese Handlungsweise stets und um ihrer selbst willen zu entscheiden.

 

Unlike innate natural potencies, acquired rational potencies by virtue of the logos (the defining knowledge) of the goal to be realised not only can be exercised or not, but even are open to results of opposite contents. In the case of rational potencies in the narrower sense (technical skills), we acquire, by habituation, operational abilities which are morally neutral so that a decision is required for an unequivocal result to be achieved. In the case of virtues, the acquired potency has a moral orientation for our decisions integrated in itself and nevertheless remains, in principle, open. In order to find out in a certain situation which action has the external characteristics of a virtue, the natural faculty must be developed to be a rational potency. In the virtue, the latter is further developed to be the disposition to choose this type of action always and for its own sake. – This new systematic reconstruction is meant to explore in how far Aristotelian virtues may be regarded as rational potencies.


(Seite 329-350)

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