Wie und wozu werden Glaubenspraktiken (de:re)konstruiert?

Zum ersten Sankt Georgener Abendgespräch luden die Alttestamentlerin Dr. Juliane Eckstein und der Kirchenhistoriker Dr. Niccolo Steiner SJ am vergangenen Mittwoch, den 11. Mai, in die Aula der Hochschule Sankt Georgen ein. Der Auftakt der Gesprächsreihe des Sommersemesters stand unter dem Thema „Die Erfindung der Tradition“.

Die römisch-katholische Kirche befindet sich in großen Umbrüchen – wie andere Religionsgemeinschaften auch. Gleichzeitig zeigen viele theologisch Forschende auf, dass scheinbar schon immer dagewesene Traditionen, Praktiken und Glaubenslehren eigentlich jüngeren Datums sind. Oft erklingt die Klage, diese Forschung würde vom Lehramt wenig bis gar nicht rezipiert. Theologisch fragwürdige Narrative würden sich am Ende durchsetzen. Andererseits gibt es derzeit in vielen Ortskirchen Neuerungsbewegungen, deren Ausgang offen zu sein scheint.

Vor diesem Hintergrund gingen Dr. Juliane Eckstein und Dr. Niccolo Steiner, die beide in Sankt Georgen lehren, der Frage nach, wie Tradition entsteht. Wie werden Glaubenspraktiken und -lehren konstruiert, dekonstruiert, rekonstruiert? Wozu dienen Konstruktionen und Dekonstruktionen? Welche Rolle spielt die Theologie in diesen Prozessen?

Dr. Eckstein eröffnete zunächst einen exegetischen Blick auf die Erfindung der Tradition. In 2 Kön 23 werde eine Kultreform unter dem König Joschija geschildert, die in 2 Kön 22 durch die Auffindung eines Schriftstücks mit göttlichen Weisungen, dem Urdeuteronomium, legitimiert werde. Damit sei einerseits ein kultpolitisches System legitimiert worden. Andererseits habe man mit Hilfe dieser Tradition der Kulturhegemonie des assyrischen Imperiums etwas entgegenzusetzen gehabt. Die Machtbedingungen, unter denen Traditionen konstruiert werden, seien bei der Erfindung einer Tradition unbedingt mitzudenken. Mit Bruno Latour sei aber zu beachten: „Konstruieren kann man nur mit dem Material, das man schon hat“. Traditionen würden nicht aus dem Nichts errichtet, sondern stützten sich auf Vorläufer in der gelebten Praxis, in Narrativen, in geschichtlichen Ereignissen.

Dr. Niccolo Steiner setzte sich kirchenhistorisch mit dem Thema auseinander. Ausgehend von den Thesen Eric Hobsbawms und Hubert Wolffs zeigte er an mehreren Beispielen, wie kirchliche Traditionen ‚erfunden‘ – oder besser „radikal reformuliert“ (Casanova) worden seien. Traditionen entstünden in akuten Krisen. Sie bräuchten Traditionsmanager. Sie seien gemeinschaftsstiftend, würden eine Gesellschaft damit aber in ein Innen und ein Außen teilen. Abweichungen von der ‚neuen‘, reformulierten Tradition müssten strikt sanktioniert werden. Traditionsbildung gehe mit der Heroisierung bestimmter Personen einher und Traditionen seien dann am erfolgreichsten, wenn sie den Eindruck von Ewigkeit erwecken könnten.

Auf dem Podium und im anschließenden Publikumsgespräch wurden die Thesen einer lebendigen Debatte unterzogen: Wie umgehen mit der Verengung eines weiten Begriffs von „Traditionen“ auf dem Konzil von Trient hin zu einem engeren Begriff der einen „Tradition“ in der späteren Rezeption des Konzils? Soll die Theologie hinter die scheinbar ewigen Traditionen schauen und damit mehr Offenheit und Weite ermöglichen? Oder soll sie Gegennarrative schaffen, die Reformbemühungen und die Neuerfindung von Traditionen legitimieren helfen könnten? Wie sehen die kirchlichen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse aus, unter denen diese Prozesse stattfinden? Ist es in einer pluralistischen und spätmodernen Gesellschaft überhaupt noch angemessen, Narrative konstruieren zu wollen? Braucht es eine Instanz, die bestimmte Traditionen und damit verbundene Narrative stillstellt?

Viele Fragen wurden aufgeworfen, nicht alle konnten oder sollten abschließend beantwortet werden. Sie können und sollen weiter diskutiert werden.

Die Gesprächsreihe wird am 8. Juni von Prof. Dr. Stephan Herzberg, Philosoph in Sankt Georgen, und Prof. Dr. Franz-Josef Bormann, Moraltheologe der Universität Tübingen, fortgeführt. Thema dieses Abends wird „Das Naturrecht unter den Bedingungen der Gegenwart“ sein. Die Abendgespräche finden in Präsenz mit Online-Übertragung statt. Es wird um eine Anmeldung beim Rektorat (rektorat(at)sankt-georgen.de) gebeten.  

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